Habe ich die Angst oder hat die Angst mich?

Habe ich die Angst oder hat die Angst mich?

Inge Leder, D-Erfurt-Stotternheim, Selbstständige Zahnärztin, Exerzitienbegleiterin verheiratet mit Diethard Leder, zwei verheiratete Söhne und drei Enkelkinder

Heute bin ich eine Frau, die vielfältig aktiv ist, Verantwortung übernimmt, stetig eigene Grenzen anfragt und überschreitet, sich Fehler eingesteht und sich auf so manches Abenteuer einlässt. Doch das war lange Zeit nicht so. Schaue ich zurück, stellt sich die Frage: Warum? Was hat mich davon abgehalten?

Die Angst – oder besser: die Angst vor der Angst!

Sie hielt mich in meiner Kindheit und Jugend fest im Griff: Doch darüber mit jemandem sprechen? Das war ja peinlich, und die wenigen Versuche in dieser Hinsicht halfen mir nicht wirklich.

Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich von regelrechter Panik ergriffen wurde. Hatte ich sie irgendwie durchgestanden, verdrängte ich diese Gefühle schnell, ohne mich ihnen wirklich zu stellen.

In einem Pfarrhaus in der ehemaligen DDR als viertes Kind aufgewachsen, nahm ich intuitiv wahr, welche Rolle ich in der Familienkonstellation einzunehmen hatte, um akzeptiert zu werden.

Wir wollen doch geliebt sein! Da mein christlicher Glaube nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entsprach, erlebte ich erst in der Schule und später im Beruf Ausgrenzungen, so dass ich stets darauf bedacht war, Leben live dazu nicht noch zusätzlich mit meinem Verhalten beizutragen. Ich bin sehr geübt, alle echten und vermeintlichen Erwartungen an mich zu erfüllen. Trotzdem habe ich mit Zittern und Zagen meinen Glauben bekannt, war kein Mitglied bei Pionieren und FDJ (kommunistische Jugendorganisationen) und habe so manchen Sonntagabend kaum einschlafen können – aus Angst vor der neuen Woche.

Die Angst vor Ablehnung prägte mich tief.

Meinem Vater selbst war durch Erfahrungen mit der Staatssicherheit (Geheimpolizei) der Lebensmut gebrochen, so dass es meine Eltern nicht vermochten, mir zu Hause den nötigen Rückhalt zu geben. Angst lag wie eine Decke über diesen Jahren. Sie ließ mich immer erst innerlich fragen: Was kann, was darf ich hier sagen und tun? Was wird erwartet? Womit kann ich, obwohl Christ, trotzdem noch akzeptiert sein?

So führten diese unbewusst entwickelten Selbstschutzstrategien dazu, dass das, was Jesus uns, die wir ihm vertrauen, verheißt, nämlich ein Mehr an Leben, Freude und Liebe, meiner Angst nicht Einhalt gebieten konnte, denn ich stellte mich ihr nicht. Nicht ich hatte die Angst – sondern die Angst hatte mich. In meinen alltäglichen Herausforderungen gelang es mir über weite Strecken, die Angst im Zaum zu halten. Ich war eine perfekte ‘Erwartungserfüllerin’. In Wahrheit aber gehorchte ich der Angst.

Die Kehrseite: Ich entsprach nicht wirklich meiner Originalität, bremste die Entfaltung meiner eigentlichen Persönlichkeit, verschüttete den Zugang zu meinen eigenen Bedürfnissen.

Da ich bereits früh bewusst eine Entscheidung für den christlichen Glauben getroffen hatte, betete ich auch darum, diese Ängste loszuwerden. Ich schämte mich ihrer, bis ich erkannte, dass Angst zum Leben gehört, dass es aber entscheidend ist, ob ich die Angst habe oder sie mich. Wegweiser dazu wurde mir ein Wort von Jesus selbst: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. 1 »In der Welt habt ihr Angst« heißt für mich, ich brauche mich meiner Angst nicht zu schämen, muss sie nicht verdrängen, verharmlosen, sie umgehen, irgendwie loswerden. Sie gehört zum Leben, ja sie ist ein Lebensschutz!

»…sei getrost…« sagt mir: Vertrau‘ dich mir an, lass dich von mir, Jesus, trösten und ermutigen, denn: »…ich habe die Welt überwunden!« Also: Ich, Jesus, bin stärker als die Angst, sie ist entmachtet! Und damit kann sie mir sogar dienlich sein.

Ja, inzwischen kann ich sagen, dass die Angst zu meinem ‘Personal Trainer’ geworden ist, eine Einladung zum Wachsen und Reifen meiner Identität. Ich habe mich mit ihr versöhnt. Leicht ist das nicht immer, das gebe ich zu. Aber ich bleibe dran am Üben!

Meine persönliche Beziehung zu Jesus Christus ist mir auf diesem Weg gleichzeitig Grundlage und Herausforderung. Wie ist das zu verstehen? Die Psychologie hat es in den letzten Jahrzehnten deutlich artikuliert: Es ist lebenswichtig für unsere Seele, dass uns jemand sagt: Du bist recht so, wie du bist, wertvoll, einzigartig… Diese Ermutigung brauchen wir alle, existenziell. Sie ist Voraussetzung dafür, uns unseren Ängsten zu stellen. Aber kein Mensch kann diese Sehnsucht im Letzten befriedigen.

Jesus spricht uns genau das zu. Er, der Schöpfer des Universums, wartet förmlich darauf, dass ich ihm zuhöre, ihm glaube, dass er es ehrlich meint mit dieser persönlichen Ermutigung. Es ist sogar seine tiefste Sehnsucht, für jeden Menschen! Davon handeln letztlich alle überlieferten Erzählungen von ihm im Neuen Testament. Es ist also nichts Neues, bereits seit fast 2000 Jahren nachzulesen in der Bibel.

Dieses Vertrauen allerdings ist nicht konservierbar, denn es ist etwas Lebendiges, das täglich wachsen will. Im Alltag rutscht mir das immer mal weg, ohne dass es mir bewusst wird. Da werden für mich Ängste und Unsicherheiten zur Einladung, mein Vertrauen in diese Lebenszusagen neu zu stärken. Sie sind ein Signal: Halt ein, sagen sie mir, lass dich nicht abwerten und klein machen, glaub dem Entmutiger in dir nicht! Mir diesen Moment des Innehaltens zu gönnen und diesen Aussagen eine Abfuhr zu erteilen, das ist immer wieder eine Entscheidung!

Der erste Schritt auf diesem Weg ist für mich, mir die gerade bestehende Angst einzugestehen, sie zuzugeben vor mir selbst. Anfänglich war es sehr wichtig, dies vor einem Gesprächspartner zu formulieren. Inzwischen kenne ich meine Ängste recht gut und kann die Lügen dahinter, die sie mir glauben machen wollen, entlarven. Ich weiß, dass spätestens, wenn sich die körperlichen Symptome der Angst – Herzklopfen – bei mir bemerkbar machen, der Zeitpunkt gekommen ist, anzusprechen, was mir auf dem Herzen liegt, zu tun, was nur ich tun kann.

Angst erfahre ich heute mehr und mehr als Einladung, Neues zu wagen, Grenzen zu überschreiten. Diese Erfahrung lässt mich wachsen, stärkt mein Selbstvertrauen und öffnet mir neue Perspektiven, weitet mein Leben. Eine interessante Entdeckung, die ich bei dem nächsten Schritt mit meiner Angst mache, ist, dass sie meist auch die Antwort in sich birgt, was ich denn jetzt tun soll. Und nicht nur das; ich erlebe, dass ich es auch vermag. Dass der Schöpfer genau diese Fähigkeit in mich hineingelegt hat, von der die Angst mich abgehalten hat.

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1
Johannes, Kapitel 16, Satz 3